
Fehlerkultur II - Was ist eine Fehlerkultur?
Dieser Artikel ist Teil der Projektarbeit "Fehlermanagement im Rettungsdienst" im Rahmen des CAS QM an der ZHAW 1/2016. Im Rahmen einer dreiteiligen Serie zum Thema Fehlermanagement - Fehlerkultur geht es in diesem Beitrag um die Kennzeichen einer Fehlerkultur.
Was ist eine Fehlerkultur?
„Eine […] offene Fehlerkultur muss als als Grundbestandteil eines effektiven Qualitätsmanagements verstanden werden.“ „Fehlerkultur sind die in einer Organisation vorherrschenden Leitvorstellungen und Werte für den Umgang mit unerwünschten Ereignissen, Abweichungen, Fehlern und Beschwerden.“ "Kultur ist ein Muster von gemeinsamen Überzeugungen und Erwartungen, die in Verbindung mit bestimmten Fähigkeiten und Fertigkeiten massgeblich beeinflusst, wie Individuen in Gruppen das Unerwartete erkennen, managen und daraus lernen.“
Die Kultur eines Unternehmens ist sehr schwer veränderbar. Derartige Veränderungen benötigen sehr viel Zeit und die Gefahr von Rückschlägen ist gross. "Zu einem Kulturwandel gehört die Modifizierung von Praktiken, …Werten und Annahmen." D.h. eine Kultur lässt sich nicht durch reine Dienstanweisung von oben nach unten durchsetzen. Es handelt sich um einen stetigen Prozess. Ein entscheidender Faktor für das Gelingen einer Kulturveränderung ist das Vorleben der Werte durch das Kader und das obere Management, das sich den Zielen und der Vision einer informierten Kultur verpflichtet. Das Top-Management muss bereit sein, bestehende Grundannahmen zu hinterfragen und diese aufzugeben. Die Kommunikation muss glaubwürdig, konsequent und deutlich sein. Werden diese Werte von den Mitarbeitern als authentisch wahrgenommen und können sie sich mit diesen identifizieren, führt das zu entsprechenden Überzeugungen, Einstellungen und einer Änderung der Verhaltensweisen der Mitarbeiter. Entsprechende Belohnungen in Form von Geld, Beförderung und vor allem Anerkennung können diesen Wandel fördern. Die Mitarbeiter müssen sich sicher fühlen, und dürfen keine Angst vor Konsequenzen haben, damit sie Fehler oder Unregelmässigkeiten melden. Sobald sie Sanktionen befürchten, werden sie Probleme ignorieren oder vertuschen. Bei einem entsprechenden Klima werden sie zudem Annahmen in Zweifel ziehen und bestehende Standards überdenken. In den besten HRO (High Risk Organisations) werden die Mitarbeiter besonders motiviert, Fehler zu melden. Es werden Mitarbeiter sogar dafür belohnt, wenn sie einen Irrtum, der ihnen unterlaufen ist, melden. Insbesondere in der Anfangsphase der Einführung eines Fehlermanagements und einer Fehlerkultur kann und wird es dazu kommen, dass diese Schwierigkeiten mit den daraus resultierenden Veränderungen haben und sich überwacht fühlen. Dem kann beispielsweise durch entsprechende Schulungen, regelmässige, frühzeitige Informationen und Mitarbeitergespräche entgegengewirkt werden. Es werden im Umgang mit Fehlern in Organisationen zwei Sichtweisen unterschieden:
Die personenorientierte Sichtweise
Im Gesundheitswesen ist, trotz einer positiven Veränderung in den letzten Jahren, die traditionelle, personenorientierte Sichtweise weit verbreitet. Fachpersonal wird, wenn ihnen ein Fehler unterläuft, persönlich beschuldigt. Gelegentlich werden sie vor Kollegen oder Patienten gemassregelt und/oder bestraft. Dabei wird ausser Acht gelassen, dass Fehler durch Sicherheitslücken im System passieren und nicht durch die Fähigkeiten eines Einzelnen. Auf diese Weise wird das systematische Problem nicht beseitigt, wodurch der gleiche Fehler bei einem anderen Mitarbeiter wieder passieren kann.
Die systemorientierte Sichtweise
Diverse Wissenschaftler postulieren die Notwendigkeit einer systemorientierten Sichtweise im Gesundheitswesen, wie sie bei HRO üblich ist, zu entwickeln und anzuwenden. Diese Perspektive geht grundsätzlich davon aus, dass Menschen fehlbar sind, und dass das System selbst sicher angelegt sein muss, um Fehler und daraus resultierende Behandlungsschäden zu vermeiden. Das bedeutet, dass beispielsweise organisatorische Prozesse oder Geräte so gestaltet sein müssen, dass das Fehlerrisiko gering ist und dass trotzdem gemachte Fehler keine dramatischen Auswirkungen haben können. Die systemorientierte Sichtweise ist auch Grundlage des CIRS (Critical Incident Reporting System). Eine andere Bezeichnung ist auch „No-Blame“-Kultur. Dieses System stösst an seine Grenzen, wenn einzelne Fachpersonen sich nicht an evidenzbasierte Sicherheitsstandards halten. In der folgenden Übersicht werden Eigenschaften einer guten mit einer schlechten Fehlerkultur verglichen:
Schlechte Fehlerkultur
-Ursachenanalyse zielt zuerst auf die Verschuldensfrage
-Schuldzuweisungen münden in persönlichen Konsequenzen
-Kollegen lästern über Fehler, Fehlervertuschung ist cool
Gute Fehlerkultur
-Ursachenanalyse zielt auf Korrektur und Vermeidung
-Eine persönliche Zuweisung findet nicht statt (ausser strafrechtlich)
-Fehlerreporting auf allen Stufen ohne negativen Touch
Die Entwicklung einer Fehlerkultur lässt sich in Anlehnung an das Reifegradmodell der Sicherheitskultur im zeitlichen Verlauf darstellen. Die fünf Stufen beginnen bei „pathologisch“, d.h. Fehler werden verschwiegen. In der nächsten Phase werden Sicherheitsmängel erst dann angegangen, wenn es bereits zu Unfällen oder Zwischenfällen gekommen ist. In der kalkulativen Stufe gibt es bereits Systeme zur Gefährdungserkennung (z.B. CIRS). In der darauf folgenden Stufe werden Probleme „proaktiv“ angegangen, sobald sie erkannt werden. In der letzten Stufe ist Sicherheit Tagesgeschäft und fest in der Kultur verankert.

Quellen:
Ammann, R., Döhler, C. & Weimann, T. (2013). Der Innovationsprozess: Eine quantitativ empirische Untersuchung der deutschsprachigen Schweiz zu Potentialen und Erfolgsfaktoren. Wissenschaftliches Praxisprojekt im Bachelor-Studiengang Betriebsökonomie an der FFHS
Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin. Fehlermanagement. Abgerufen am 20.12.2015 http://www.aezq.de/patientensicherheit/fehler-management
Badke et al. (2012). Human Factors: Psychologie sicheren Handelns in Risikobranchen. Heidelberg: Springer Verlag.
Bezzola, P. (2011). Fehlermanagement. Präsentation am Notfallsymposium 28.11.2011 in Bern. Stiftung für Patientensicherheit. aus: Reason J. Qual Health Care 1995; 4: 80-89.
Birkmayer, S. et al. (2008). six sigma toolkit: The DMAIC Cycle in 15 steps - the most important tools in compact form. Wien: ifss Institute for Six Sigma.
Bischofberger, T. (2010). Ursachen suchen, nicht Schuldige: Wie auch im Rettungsdienst endlich aus Fehlern gelernt werden könnte. Star of Life. 2010(4): 18-23.
Cooper et al. (1984). An analysis of major errors in anaesthesia management. Anaesthesiology. 60: 34-42.
Driver, T. et al. (2013). Responding to clinicians who fail to follow patient safety practices: perceptions of physicians, nurses, trainees and patients. Journal of Hospital Medicine. 2013. Europäisches Komitee für Normung (2015). EN SN ISO 9001:2015 Ausgabe 2015-09.
Haenggi, D., Heinzl, S. (2005). Fehlermanagement im Spital. Schweizerische Ärztezeitung. 2005 (86): 1680-1689.
Heusler, S. (2014). Zweieiige Zwillinge: Arbeitssicherheits- und Qualitätsmanagementsystem. Management und Qualität. 3/2014: 12-13.
Hochreither, P. (2005). Erfolgsfaktor Fehler! Persönlicher Erfolg durch Fehler. Göttingen: BusinessVillage GmbH.
Interverband für Rettungswesen [IVR]. (2012). Handbuch für die Vorbereitung und Durchführung des Verfahrens zur Anerkennung der Rettungsdienste gemäss Richtlinien 2010. Aarau: Autor.
Jacob, J. (2015a). Qualitäts-Managament-Systeme: Grundlagen zum Inhalt, Aufbau, Umsetzung und zur Überprüfung von Qualitätsmanagementsystemen. ZHAW
Jacob, J. (2015b). Fehlerkultur/Messung, Analyse, Verbesserung. Präsentation zu Modul 6 CAS Qualitätsmanagement. ZHAW.
Kappeler, W., Mittenhuber, R. (2003). Managementkonzepte: Bewährte Strategien für den Erfolg Ihres Unternehmens. Wiesbaden: Gabler.
Kessels-Habraken, M. et al. (2010). Prospective risk analysis prior to retrospective incident reporting and analysis as a means to enhance incident reporting behavior: A quasi-experimental field study. Social Science & Medicine. 70: 1309-1316.
Kostka, C., Mönch, A. (2002). Change Management: 7 Methoden für die Gestaltung von Veränderungsprozessen. München, Wien: Carl Hanser Verlag
Kraus, G. (2014). Fit in Veränderungsprozessen: Zwölf Changemanagement-Maximen. Management & Qualität. 3/2014: 14-15.
Marx, D., Richter, L., Segelhorst, S. & Pagenberg, A. (2013). Faktor Mensch: Sicheres Handeln in kritischen Situationen. Marburg/Lahn: MEDI-LEARN Verlag GbR.
Moecke, H., Marung, H. & Oppermann, S. (Hrsg.) (2013). Praxishandbuch Qualitäts- und Risikomanagement im Rettungsdienst: Planung, Umsetzung, Zertifizierung. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.
Neumann, A. (2012). Integrative Managementsysteme. (2. Auflage). Berlin, Heidelberg: Springer Gabler.
Patterson, D., Weaver, M., Guyette, F. (2015). 5 evidence-based countermeasures for EMS fatigue. Abgerufen am 21.12.2015 von http://www.ems1.com/columnists/naemsp/articles/3016674-5-evidence-based-countermeasures-for-EMS-fatigue/ (abgerufen am 21.12.2015)
Pezzolesi, C. et al. (2010). Clinical handover incident reporting in one UK general hospital. International Journal for Quality in Health Care. 2010(22): 396-401.
Regener, H. (2010). Irren ist - leider - menschlich: Von der Verantwortung des Einzelnen bei der Fehlerprävention. Star of Life. 2010(4), 13-17.
Regener, H. (2011). Ein Fehler ist kein Fehler, zwei Fehler sind einer zuviel!. Rettungsdienst. 2011(7), 660-663.
Sax, H. C. et al. (2009). Can aviation-based team training elicit sustainable behavioral change?. Archives of Surgery. 2009(144), 1133-1137.
Schüttelkopf, E. M. (2015). Lernen aus Fehlern: Wie man aus Schaden klug wird. e-book (2. Auflage). Freiburg: Haufe-Lexware GmbH & Co. KG.
Schull, F. et al. (2001). Problems for clinical judgement: Thinking clearly in an emergency. 164(8): 1170-1775.
Sprenger, R. K. (2002). 30 Minuten für mehr Motivation. (4. Auflage). Offenbach: GABAL Verlag. Stiftung Patientensicherheit. Abgerufen am 21.12.2015 von http://www.patientensicherheit.ch
Tscheuschner, M., Wagner, H. (2009). 30 Minuten TMS - Team Management System. Offenbach: GABAL Verlag GmbH.
VA National Center for Patient Safety. HFMEA. Abgerufen am 21.12.2015 von http://www.patientsafety.va.gov/professionals/onthejob/HFMEA.asp VIP Swiss. Definition Fehlerfreiheit. Abgerufen am 20.12.2015 von http://www.vip-swiss.ch/de/vip/prozessmanagement.php
Weick, K. E., Sutcliffe, K. (2010). Das Unerwartete managen: Wie Unternehmen aus Extremsituationen lernen. 2. Auflage. Stuttgart: Schäffer-Poeschel-Verlag.
WHO (2011). Patient Safety Curriculum Guide. Abgerufen am 20.12.2015 von http://www.who.int/patientsafety/education/curriculum/en/
Wilson, D. (2015): An EMS Emergency: Sleep Deprivation and Fatigue. Abgerufen am 25.11.2015 von http://www.emsworld.com/article/12135723/an-ems-emergency-sleep-deprivation-and-fatigue